Stolpersteinverlegungen in FH-XB

3. Juni 2024

Familie von Selma Cyzner, angereist zur Stolpersteinverlegung aus den USA.

Im Juni wurden in Friedrichshain-Kreuzberg fünf neue Stolpersteine verlegt. Alle Steine wurden von Nachfahren initiiert, die bei den Verlegungen auch anwesend waren. Die Stolpersteinverlegungen gab es für Selma Cyzner, Paul Cramer, Hertha und Günter Graetz und für Johanne Schäfer.

1. Stolperstein für Selma Cyzner
Selma Karfiol kam 1894 in Głogów Małopolski in Galizien, das damals zum Kaisertum Österreich gehörte, in einer jüdischen Familie zur Welt. Sie übersiedelte zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Berlin und heiratete dort 1927 den jüdischen Kaufmann Josef Cyzner (1891 in Chrzanów / Galizien). Er war verwitwet und brachte die Tochter Debora (1924) mit in die Ehe. 1930 wurde die gemeinsame Tochter Ruth geboren.
Die Familie lebte etwa seit 1935 in der Büschingstr. 2, Josef Cyzner betrieb in der Nachbarschaft ein Geschäft für Leder- und Berufsbekleidung.
Aufgrund der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 entschloss sich die Familie, in die USA auszuwandern. Da Josef und Selma Cyzner aber aus Galizien stammten, besaßen sie die polnische Staatsangehörigkeit und fielen unter die polnische Quote, was eine jahrelange Wartezeit bedeutete.

Josef Cyzner wurde am 28. Oktober 1938 im Rahmen der „Polenaktion“ aufgrund seiner polnischen Staatsangehörigkeit verhaftet und nach Polen abgeschoben. Die Töchter Debora und Ruth wurden im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt. Kurz danach folgte Selma Cyzner ihrem Ehemann nach Polen, dieser lebte mittlerweile wieder in seiner Geburtsstadt Chrzanów. Im September 1939 wurde Chrzanów von der deutschen Wehrmacht besetzt, 1941 ein Ghetto für die Juden errichtet.
Josef und Selma Cyzner wurden von dort im Februar 1943 in das nur 20 km entfernte Auschwitz verschleppt und ermordet.
(Für Josef Cyzner gibt es vor dem Haus Büschingstraße 2 bereits einen Stolperstein.)

2. Stolperstein für Paul Cramer
Paul Cramer kam 1882 in Frankfurt am Main in einer jüdischen Familie zur Welt, die 1891 nach Berlin übersiedelte. Er erlernte den Beruf des Kaufmanns und heiratete, 1902 kam ein Sohn zur Welt.
Paul Cramer nahm am Ersten Weltkrieg teil. Nach Kriegsende gründete er eine Besteck- und Stahlwarenfabrik in Berlin-Lichterfelde. Seine Ehefrau verstarb 1921, 1925 heiratete er Elfriede Göbel, im selben Jahr kam eine Tochter zur Welt. Ende der 1920er Jahre verkaufte Paul Cramer seine Besteck- und Stahlwarenfabrik und zog um 1933 mit Frau und Tochter nach Kreuzberg, in das Haus Tempelhofer Ufer 34 (Gebäude existiert nicht mehr). Er betätigte sich nun als Vertreter für Solinger Stahl- und Silberwaren.
Am 31. Mai 1934 wurde er von der Gestapo wegen „Betruges und Meineids“ verhaftet. Vermutlich wurden Paul Cramer die finanziellen Betrügereien eines Geschäftspartners angelastet. Da seine Frau „Arierin“ war, wurde auf sie Druck ausgeübt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Paul Cramer war in den folgenden 22 Monaten in den Gefängnissen Moabit, Plötzensee und Tegel inhaftiert. Zu einem Prozess und einer Verurteilung war es in dieser Zeit nicht gekommen, am 28. März 1936 wurde er aus der Haft entlassen. Er war seelisch und körperlich nur noch ein Wrack.
Als am 10. Dezember 1938 die Gestapo in die Wohnung kam, um ihn erneut zu verhaften, nahm sich Paul Cramer das Leben.
Seine Ehefrau, der Sohn und die Tochter überlebten den Krieg.

3. Zwei Stolpersteine für Hertha und Günter Graetz
Hertha Fabian kam 1890 in Berlin in einer jüdischen Familie zur Welt. Sie erlernte das Schneiderhandwerk und heiratete 1917 den jüdischen Kaufmann Harry Graetz, 1918 wurde der Sohn Günter geboren. Herthas Ehemann starb 1921 im Alter von nur 30 Jahren. Um 1926 zog Hertha Graetz mit ihrem Sohn in das Haus Britzer Straße 23 (heute Kohlfurter Straße 46).
Da Günter Graetz ab 1933 stark unter antisemitischen Anfeindungen an seinem Gymnasium zu leiden hatte und Herthas Schneiderei zunehmend vom Boykott jüdischer Geschäftsleute betroffen war, entschlossen sie sich, auszuwandern.
Am 1. August 1933 verließen Hertha und Günter Graetz Berlin und begaben sich nach Amsterdam. Hertha arbeitete dort als Schneiderin, Günter verdiente Geld mit Gelegenheitsarbeiten. Als 1935 das Arbeitsverbot für Ausländer erlassen wurde, wurden beide entlassen. Sie emigrierten daraufhin nach Argentinien und ließen sich in Buenos Aires nieder. Aufgrund der politischen Situation in Argentinien übersiedelten Mutter und Sohn im Februar 1945 nach Montevideo, Uruguay.
Günter Graetz heiratete 1949 und bekam mit seiner Ehefrau 2 Kinder. Die finanzielle Situation der Familie war anfangs sehr schwierig, in späteren Jahren wurde Günter Graetz mit der Entwicklung und Installation von Alarmsystemen beruflich erfolgreich. Er starb 1986 an einem Herzinfarkt. Seine Mutter war bereits 1959 in Montevideo verstorben.

4. Stolperstein für Johanne Schäfer
Johanne Riess kam 1867 in Schlochau (Westpreußen), ca. 125 km südwestlich von Danzig gelegen, in einer jüdischen Familie zur Welt. Sie übersiedelte als junge Frau nach Berlin, wo sie als Näherin arbeitete.
1893 heiratete sie den Malermeister Ernst Schäfer (1869 in Güntersen). Er war evangelisch, 1903 konvertierte Johanne zur Religion ihres Ehemannes. Das Ehepaar bekam 2 Kinder: Erich (1896–1918) und Kurt (1900).
Erich fiel im Ersten Weltkrieg. Der jüngere Sohn Kurt absolvierte eine Lehre als technischer Zeichner und wanderte 1921 in die USA aus, wo er bei einem Automobilbau-Zulieferer in Philadelphia arbeitete. Es gelang ihm, von seinem Lohn so viel Geld anzusparen, dass er für seine Eltern Mitte der 1920er Jahre das Mietshaus Zorndorfer Straße 29 (heute Mühsamstraße 68) erwerben konnte. Die Schäfers zogen 1925 dort ein.
Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, war Johanne Schäfer zunächst durch ihre sogenannte „Mischehe“ vor der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung von Juden geschützt. Ihr „arischer“ Ehemann verstarb jedoch 1939. Dennoch entging sie der Deportation und überlebte den Krieg in Berlin – wahrscheinlich, weil ein Verwandter ihrer Schwiegertochter, ein SS-Sturmbannführer, schützend seine Hand über sie hielt.
Johanne Schäfer starb 1947 in Berlin an Lungenkrebs.

Alle diese Stolpersteine wurden von Nachfahren initiiert, die bei den Verlegungen auch anwesend sein werden.